VEB Wurzner Teppichfabrik
Wandteppich „Zehn Jahre Deutsche Demokratische Republik“
Wurzen 1959
Baumwollgarn (Grundgewebe), Viskosegarn (wohl REGAN, Flor)
Chenille-Axminster-Webtechnik, maschinengefertigt
B 239 cm x H 165 cm
Inv.-Nr. VI391Db
Der großformatige sogenannte „Wilhelm Pieck“-Wandbildteppich mit der Aufschrift „ZEHN JAHRE DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK“ aus dem VEB Wurzner Teppichfabrik wird 1959 als Ehrengabe zum zehnten Jahrestag der Staatsgründung der DDR in Chenille-Axminster-Webtechnologie hergestellt. Das dominante Brustbild des lächelnden kommunistischen Politikers Wilhelm Pieck (1876–1960) im Dreiviertelprofil auf blauem Grund wird im Vordergrund im unteren Drittel von zwei gekreuzten Fahnen (Nationalflagge, seit 1. Oktober 1959 mit Staatswappen und Arbeiterfahne) hinter dem Staatswappen der DDR verdeckt. Wilhelm Pieck war Mitbegründers der KPD und zusammen mit Otto Grotewohl (1894–1964, SPD) Vorsitzender der 1946 gegründeten SED sowie seit 1949 bis zu seinem Lebensende einziger Präsident der DDR. Neben dem Bildnis von Pieck, dessen Augen in die Ferne und nicht auf die Betrachtenden gerichtet sind, wird im Hintergrund holzschnittartig in Weiß ein Landschaftspanorama entwickelt. Gezeigt werden auf der linken Seite Hochöfen, rauchende Schornsteine, Fabrikstrukturen und auf der rechten Seite fruchtbare Felder, landwirtschaftliche Fahrzeuge wie Traktor und Mähdrescher sowie ein Brückenbau (Hochbau). Die komplexe, zugleich leicht verständliche Bildkomposition legt mit dieser Ikonografie den Fokus auf Dynamik, Ordnung und Harmonie zwischen Mensch, Natur und Technik sowie der Arbeiter- und Bauernschaft. Auf diese Weise wird der erfolgreiche Aufbau des Sozialismus in dem jungen Nationalstaat durch Symbole des wirtschaftlichen Aufschwungs propagiert.
Facettenreicher wird dieser in verschiedensten Bildmedien vermittelte kollektive Aufschwung z. B. an einem Satz von zehn Jubiläumsbriefmarken deutlich, der 1959 in Umlauf gebracht wird und in dem sowohl auf Leistungen wie auf Akteure verwiesen wird: So wird mit der 5-Pfennig-Briefmarke die „Mechanisierung der Landwirtschaft“ herausgestellt. Die 20-, 25- und 50-Pfennig-Briefmarken zeigen die „Erbauer des Sozialismus“ anhand von drei Berufsbildern ‒ Arbeiter, Wissenschaftler, Landwirte – die als Vorbilder für kollektive Leistung, Fachkompetenz und gesellschaftliche Wertigkeit dienten. Der reale Sozialismus nutzt positive Bilder von Wachstum und Fortschritt, um das Regime zu legitimieren und Vertrauen in die Planwirtschaft zu schaffen.


Das Bild des optimistisch lächelnden Präsidenten wird damals häufig vervielfältigt: So auch in der Zeitungsausgabe des „Neuen Deutschland“ vom Tag der Republik, dem Staatsfeiertag der DDR, am 7. Oktober 1959. Sehr große Ähnlichkeit mit dem für den Wurzener Wandbildteppich als Vorlage verwendeten Porträt hat ein Foto des Präsidenten aus dem Jahr 1955, von dem sich ein Abzug in der Sammlung des Deutschen Historischen Museums in Berlin befindet (Inv.-Nr. F 63/547).
Die aufwendige Axminster-Webtechnik prägt in Wurzen die Teppichproduktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wird in zwei Webvorgängen umgesetzt. Sie erlaubt im Gegensatz zur Tournay-Webtechnik, bei der man höchstens fünf Farben miteinander kombinieren konnte, eine größere Farbvielfalt.


Auf diese Weise konnten komplexe und detaillierte Darstellungen von hoher Plastizität realisiert werden. Das bildhafte Kompositionsprinzip war aufwendig, weil es in der Höhe und Breite keine Wiederholung von Motiven gab. Beim Wilhelm-Pieck-Teppich, von dem 41 Einzelstücke hergestellt werden, werden die koloristischen Möglichkeiten für maschinell gefertigte Teppiche mit der Verarbeitung von 23 Farben ausgeschöpft. Typisch für die Axminster-Webtechnik ist die Rasterung der Darstellung, die „gepixelt“ wirkt und durch unterschiedlich farbige Schlingen und Noppen erzeugt wird. Die Ober- und Unterschüsse sind markant und geben dem Teppich in Querrichtung ein streifiges Aussehen.
Die Wurzeln der Wurzener Teppichproduktion reichen bis ins Jahr 1859 zurück. 1883 wird aus einem Nebenbetrieb der Tapetenfabrik August Schütz heraus die Wurzener Teppich- und Veloursfabriken AG gegründet, die mit der Produktion von handgeknüpften und mechanisch gewebten Teppichen bald weltweiten Ruhm erlangt. Unter der Leitung von Arthur Bechtold (1875–1951) wird in der seit 1914 unter dem Namen Wurzner Teppichfabrik AG firmierenden Fabrik um 1914 herum die Axminster-Webtechnologie eingeführt. 1959 werden in Wurzen die ersten Doppeltournai-Webmaschinen montiert. Die profitablere Produktion von Tournai-Teppichen führt zur schrittweisen Aufgabe der handarbeitsintensiven Axminster-Weberei in Wurzen, weshalb die übrigen Wandbildteppiche der DDR, die in den Sammlungen des Kulturhistorischen Museums Wurzen bewahrt werden, Tournai-Teppiche sind. Der am meisten hergestellte Wurzener Wandbildteppich war indes der sog. Bärenbildteppich nach dem Gemälde „Morgen in einem Kiefernwald“ (1889) von Iwan Schischkin (1832–1898), der in die Sowjetunion exportiert wurde. Die Wandbildteppiche der DDR, die anlässlich politischer Ereignisse entstanden, waren Auftragswerke der SED. Sie wurden in geringer Stückzahl produziert und gelangten nicht in den Verkauf.
Danke an Erhard Schmutzler (Wurzen) und die Textilrestauratorin Andrea Knüpfer (Halle/Saale) für die Beratung.
Quellen und Literatur
Archiv des KHM, Akten Teppichfabrik Wurzen, 1994.1.26., Brief E. Schmutzler an das Museum.
Carl J. Birk, Etwas über Teppiche, Wurzen 1936.
Björn Raupach, Politik und gewebte Lebensfreude: der Bildteppich in der DDR, Diss. Paderborn 2015.
Hermann Klaubert, Teppiche, mechanisch gewebt, Essen 1955.
Zwischen Kunst und Politik. Wandteppiche aus der DDR. 1955–1989. Eine Entdeckung, hrsg. vom Aedes Architektur u. Carpet Concept, Begleitbuch zur Ausstellung, 2016.
https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/wilhelm-pieck-1955
https://objekt.db.dhm.de/objekt/D2Y0384