Feldpost von Hans Böttcher an Maria Reemy
Hans Böttcher alias Joachim Ringelnatz
09.05.1916
L 14 cm x B 9,2 cm
Inv.-Nr.: VIII1631A
Feldpost spielt im Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle für die Verbindung zwischen Front und Heimat. Für Millionen Soldaten ist sie oft die einzige Möglichkeit, mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben. Briefe und Karten spenden Trost, Hoffnung und stärken die Moral aller Beteiligten.
Trotz schwieriger Bedingungen sorgt ein gut organisiertes Feldpostsystem dafür, dass Sendungen meist zuverlässig zugestellt werden. Neben persönlichen Nachrichten enthält die Feldpost auch militärische Informationen, weshalb sie streng kontrolliert wird. Zensur ist üblich, um Geheimhaltung und Kriegspropaganda zu gewährleisten.
Die Feldpost ist damit nicht nur ein Spiegel individueller Schicksale, sondern auch eine wichtige historische Quelle, die Einblicke in den Alltag und die Emotionen an der Front und in der Heimat sowie in die Propaganda der Kriegszeit bietet.Das bisher unveröffentlichte Dokument – eine Fotografie – ist beidseitig handschriftlich von Hans Bötticher alias Joachim Ringelnatz mit schwarzer Tinte beschrieben und kommt als Schenkung im Jahr 2014 in unsere Sammlung. Auf der Vorderseite ist Ringelnatz (4. von links) zusammen mit sieben Männern und zwei gezäumten Pferden am Strand stehend zu erkennen. Alle tragen, soweit ersichtlich, Uniformen der Kaiserlichen Marine. Im Bildmittelgrund sind Holzpfähle im Sand zu sehen – vermutlich Vorrichtungen für Stacheldrahtverhau – die Wohnhäuser wirken verlassen. Im Hintergrund blickt man auf das Meer und eine Landzunge. Links neben der Fotografie schreibt er: „der Meerbusen an dem ich viel merkwürdiges Leid und Freud erlebte / thousand years ago“
Das Foto entsteht möglicherweise in der Rigaer Bucht, auch Rigaischer Meerbusen, wo Ringelnatz Anfang 1916 für einige Monate in Kneis (Klapkalnciems) als Minenbootsmaat stationiert ist.
Auf der Rückseite schreibt er:
„Mein lieber Muck, Marie Stuart. Von 7 Stichen durchbohrt, Mückenstichen, in einer meiner seltenen Freizeitpausen, schwinge ich Euren famosen Tintenhalter, der mir nach wie vor ausgezeichnete Dienste leistet.
Einige Zeit später. Ich habe mich soeben über eine unfaire Schachpartie etc. [?] geärgert und mache ein Gesicht wie Napoleon nach der Schlacht bei ‚Dermopula'. Aber ich habe eine gute Seefahrt mit Möglichkeiten und einem starken Rum vor mir, und das kratzt mich wieder soweit auf, dass ich Humor gewinne und Dir schwarzem Teufel schreibe. Aber ein bisschen wahre Traurigkeit sitzt dahinter, ich denke an ‚Der Tod und das Mädchen'. Grüße Tula und gib ihr einen Kuß von mir, Tu's! herzlichst“
Die Adressatinnen des Briefs sind Maria „Muck“ Reemy und ihre Schwester Tula. Die drei lernen sich im September 1915 kennen, als eine kleine Gruppe um Ringelnatz als Minensuch-Sachverständige nach Warnemünde abkommandiert wird. Im Zug dorthin lernt Ringelnatz die in Mexiko geborenen Schwestern Tula und Maria Reemy kennen. Eine lebenslange Freundschaft beginnt. Die Schwestern kommen aus gutem Hause – den Eltern, deutschen Einwanderern, gehört eine Strumpf- und Wirkwarenfabrik in Tepic. Die Frauen genießen eine gute Bildung und werden bei namhaften Musikern an der Geige ausgebildet. Im Jahr 1907 geht die Mutter mit beiden nach Europa um die musikalische Ausbildung fortzuführen. Kurz nachdem die Schwestern Tula und Maria Bekanntschaft mit Ringelnatz machen, werden sie für das Orchester am Rostocker Staatstheater engagiert. Wann immer er kann, besucht er die beiden in Rostock, schaut sich ihre Auftritte an oder unternimmt mit ihnen Ausflüge nach Hamburg und Warnemünde. Sein Humor wird von den beiden gleichermaßen geschätzt, er ist vom musikalischen Talent der Geigerinnen begeistert. Auch finanziell helfen sie dem verarmten Ringelnatz immer wieder aus.
Oft tauschen die drei aufmunternde Zeilen per Brief aus, in der Hoffnung auf ein Ende des Krieges: „Weißt Du, Gustav, wir wollen doch auf eine schöne Zeit hoffen: der Krieg wird nicht mehr sein, wir wohnen wieder irgendwo und Du bist unser Hausbesuch. Wir laden nur liebe Mädchen ein und spielen wieder Mozart. Du liest vor und darfst auf dem Sofa rauchen usw. – Du wirst schon allein uns beiden zuliebe nicht tollkühn sein, und daran denken, daß Du unser bester und ich glaube treuester Freund bist. – Ich halte Tag und Nacht die Daumen für Dich. Deine Mucky.“
Auch Tula bekundet immer wieder ihre tiefe Freundschaft zu ihm: „Ich will es Dir nur gestehen, daß mir seit meiner Kindheit nicht eine solche Freundschaft geschenkt wurde. Es ist ja das beste, was Du schenken kannst und ich danke es Dir mit Gleichem und bin zufrieden.“
Im Sommer 1916 geht sein Einsatz in Kneis zu Ende, Ringelnatz kehrt nach Kiel zurück. Kurz darauf lernt er während seines Heimaturlaubes Leonharda Pieper in Eisenach kennen, die er 1920 heiratet. Mucky berichtet ihm bereits 1918 in einem Brief von ihrer Verlobung mit dem Arzt Dr. Hartwig Eggers, Ringelnatz‘ Heiratsantrag lehnte sie einst ab.
An seinem 51. Geburtstag wird im Berliner Tageblatt um finanzielle Unterstützung für die medizinische Behandlung des an Tuberkulose erkrankten Ringelnatz gebeten. Maria und ihr Ehemann spenden daraufhin 600 Mark. In einem Brief an Karl Albin Bohacek schreibt Muschelkalk im Oktober desselben Jahres zu den diversen Spendenaufrufen: „Das Freundeskomitee hat im Einverständnis mit Herrn Rowohlt und mir (ich habe wiederum natürlich mit meinem Mann darüber gesprochen) bisher jede allzu grosse Oeffentlichkeit der Ringelnatz-Spende zu vermeiden versucht. Sogar die verschiedenen Zeitungsartikel, die ja sehr schön abgefasst wurden, sind eigentlich unerwünscht gewesen. […] Denn jede direkte Wohltätigkeit wirkt ja auf den Kranken doch etwas deprimierend. Ich glaube, Sie verstehen, was ich damit meine.“
Ringelnatz stirbt am 17. November 1934 in seiner Berliner Wohnung.
Literatur:
Jung, Sabine (Hrsg.), Die Frauen um Ringelnatz. Zum 130. Geburtstag des Künstlers, Leipzig 2013, S. 140ff
Pape, Walter (Hrsg.), Joachim Ringelnatz. Das Gesamtwerk in sieben Bänden, Berlin 1983, Band