Sog. Pestkarren mit Särgen
Datierung: 1607
Maße: 100 x 150 cm, Eichenholz, Beschläge: Eisen
Inv.nr.: V1H
Der Wurzener Pestkarren ist ein einachsiger Leiterwagen mit zwei großen Rädern und einem Erwachsenen- sowie einem Kindersarg.
Die großen Räder weisen tiefe Nutzungspuren auf. In der Vergangenheit wurde er häufig mit verschiedenen Mitteln gegen Holzwurmbefall behandelt. 1911 wurde der Karren zur Reichshygieneausstellung nach Dresden ausgeliehen. Seit 1927 befindet er sich im Besitz des Museums. 1999 reiste er nach Kassel ins Museum für Sepulkralkultur. Die Provenienz ist nicht lückenlos geklärt: Vor 1927 stand der Wagen in der Heilig Geist Kirche Wurzen. Seit wann er sich in deren Besitz befand, ist unklar.
Die Entstehung des Pestkarrens und die damit verbundenen Überlieferungen erinnern uns an ein besonders schweres Jahr in der Geschichte der Stadt. 1607 wird Wurzen erneut von einer Pestwelle erfasst. Es soll die Verheerendste werden. Johann Lasman, Rektor der Schule zu Wurzen, hat in einer Chronik des Jahres die Ereignisse veröffentlicht: „Der traurige Sommer im großen Sterben zu Wurzen / Anno 1607“. Hinzu kommt das Verzeichnis der Verstorbenen von Wolfgang Mamphras. Keiner der betroffenen Einwohner Wurzens gerät somit in Vergessenheit.
Ihren Ausgang nahm die Seuche von der Frau eines Schusters, die von der Leipziger Messe wiederkam. Wenige Tage nach ihrem Begräbnis mit vielen Gästen verstarb auch ihr Mann und die Nachbarn ahnten, was nun begann. Im Laufe weniger Wochen steigerten sich die Zahlen der Kranken und auch die der Sterbenden rasch. Waren es im Juni noch 34, im Juli schon 136, erreichte der September mit 321 Verstorbenen seinen traurigen Höhepunkt.
Lasman beschreibt die Ereignisse sehr eindrücklich. So erzählt er, wie die Kranken aus der Stadt in Hütten auf dem Gottesacker ziehen mussten, Kinder zu entfernten Verwandten in andere Städte gebracht wurden, um sie vor einer Ansteckung zu schützen oder die Frauen ihre Kinder alleine zur Welt bringen mussten, weil es keine Hebamme mehr gab. Er berichtet aber auch von einem Wunder: Eine totgeglaubte Frau erwacht am nächsten Morgen wieder und wird von einem Totengräber aus dem Sarg gerettet. Die beiden heiraten kurz darauf. Allerdings infiziert sich die Frau Lasmans auf dieser Hochzeit und auch die zum Großvater geschickten Kinder kehren krank heim. Der Bruder des Autors Simon Lasman war Archidiakon der Stadt. Viele Pfarrer und Kaplane waren bereits verstorben und man dankte ihm für die Fürbitten und den Beistand in dieser schwierigen Zeit, noch dazu, dass er dazu in der Lage war Trost zu spenden, obwohl er selbst „des Jammers voll“ war und seine Kinder und seine Frau bereits verloren hatte. Schließlich starb auch er und wurde in der Stadt sehr beweint. Als im September die Zahl der Kranken und Verstorbenen am größten war, bauten die Wagner zur Erleichterung und schnelleren Bewältigung der Arbeit einen Wagen zum Transport der Körper. Nur zwei Tage danach starben auch diese beiden. Nur ein Wagner der Stadt blieb verschont: „Wer sollte sonst den Wagen reparieren?“
Der zentrale Stellenwert des christlichen Glaubens und des bürgerschaftlichen Zusammenhalts durchzieht Lasmans Schrift wie ein roter Faden. Trotz der schweren Zeit wurde geheiratet, erwiesen sich Nachbarn als barmherzig und hilfsbereit und fanden gemeinsame Gebete für die Kranken statt. Im Dezember 1607 fand die Pest schließlich ihr Ende. Lasman dokumentiert den wirtschaftlichen Schaden für die Stadt, indem er sorgfältig die Berufe angibt und wie viele Personen einer jeden Zunft verstorben waren. Ersichtlich wird dabei auch, wie viele Eheleute auseinandergerissen und wie viele Kinder betrauert wurden. Insgesamt fordert diese Pestwelle 1500 Opfer. Man freute sich jubelnd über den Zuzug aus anderen Ländern und Kreisen. Und Lasman schließt mit einer frohen Botschaft: Im Januar 1608 wurden an einem Sonntag 29 Aufgebote bestellt!
Literatur:
Kiste, Kutsche, Karavan: auf dem Weg zur letzten Ruhe / Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. Kassel 1999 S. 67f.
Lasman, Johann M.: Der traurige Sommer Im grossen sterben zu Wurzen ANNO 1607. Wurzen 1608
Mamphram, Wolfgang: Verzeichnis der fünfzehnhalbhundert Personen / so allhier zu Wurzen, von dem 1. Januarii an des Jahres 1607 verstorben. Wurzen 1608